Microsoft: Pfeifen im dunklen Wald

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Mit dem neuen Betriebssystem XP stösst Microsoft auf einen schwierigen Markt.

Die letzte Woche war eine regelrechte Qual. Zuerst ein Trip auf die feuchten Philippinen, dann ab ins vernebelte Shanghai, wo Bill Gates die schamlose Umtriebigkeit der chinesischen Wirtschaft zu sehen bekam. Die neue Software Windows XP, die der Microsoft-Chef diese Woche in den USA lanciert, gibts auf Chinas Strassen längst als illegale Raubkopie, das Stück zum Discountpreis von 4.50 Franken.

Da nützte es auch nichts, dass Shanghais Bürgermeister Xu Kuangdi dem Gast aus Übersee treuherzig versprach, zum Dank für Microsofts Investitionen in der Stadt würden seine Beamten künftig keine ille-galen Microsoft-Billigkopien mehr gebrau-chen. Gates, mittlerweile mit leicht angegrauten Schläfen, lächelte artig.
Der epidemische Fake in Fernost nervt, und in der US-Heimat drückt der 11. September aufs Gemüt. Da brauchte es schon die Stimme Rudy Giulianis, des Übervaters von New York, der Gates persönlich bat, die Lancierung von Windows XP im «Marriott Marquis» am Time Square nicht zu verschieben.

Nach ein paar Retouchen am Konzept – der Werbeslogan «Prepare to fly» wurde auf «Yes, you can» umgedichtet – hielt Gates Wort. Immerhin kann er sich nun in der Pose des unerschrockenen Antizyklikers präsentieren, der sich weder von Rezessionsängsten noch von ruchlosen Fanatikern unterkriegen lässt. Konkurrenten wie AOL Time Warner, die den Start von Windows XP zum illegalen Akt erheben wollten, hat er bereits im Vorfeld im Gerichtssaal ausgehebelt.
Andere aus der Hightech-Branche, allen voran die Computer- und Mikroprozessor-Hersteller, wissen den Sondereffort Gates zu schätzen. Die US-Konjunktur braucht dringend ein paar Lichtblicke, die Konsumenten aufmunternde Schlagzeilen.

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Zwei Welten: Während Corporate America Budgets durchforstet und Kahlschlag betreibt, lässt der Software-Bauer aus Red-mond die Dollars tanzen. Die weltweite Windows-XP-Einführung soll 350 Millionen Franken verschlingen. Bei Windows 95 setzte Gates auf den Song «Start me up» der Rolling Stones, nun, in der kollektiven Sinnkrise, ist Psychedelisches von Madonna gefragt. Die Usurpierung ihres «Ray of Light» bringt ihr 40 Millionen Franken ein.
Allein: Sphärenklänge und der Vorwärtsdrang von Gates und seinem Alter Ego Steve Ballmer werden XP nicht zum Extraprofit machen. Die Marktforscher von IDG rechnen damit, dass es dem Konzern in den ersten zwölf Monaten eine Umsatztsteigerung von fünf Prozent bescheren wird. Immerhin gilt das System als innovativer Wurf, der mehr Farbe und Effizienz in die Welt der Anwender bringt. Selbst Kritiker räumen ein, XP sei seit 15 Jahren das erste Betriebssystem, in dem der Absturz nicht zum Standardprogramm gehöre.

Dennoch sprechen die Zahlen nicht für Gates. Der PC ist zwar nicht am Ende, wie ein paar Apologeten prognostiziert haben, doch der Markt ist gesättigt. Die IDG-Forscher schätzen den diesjährigen Rückgang im US-Computer-Markt auf sechs Prozent. Auch die Jugend verspricht keinen Lichtblick. Das Schuljahr hat begonnen, die Computer sind aufgerüstet. Wenig hilfreich ist zudem, dass sich neue Software zunehmend übers Internet runterladen lässt, was die Bedeutung der Betriebssysteme schmälert. «XP kann den schwachen Markt nicht kehren», prophezeit Charles Smulders, Chefanalyst bei Gartner Research.

Wenn das Betriebssystem nicht den Lichtblick bietet, dann ists vielleicht die Videogame-Konsole Xbox, die Gates in vier Wochen in die Läden schiebt. Auch hier lässt er nichts unversucht: Vier Milliarden Franken will er in den flimmerden Kindertraum investieren, der frühestens
ab 2006 Gewinne einfahren soll. Das Ziel ist ambitiös: Mit Xbox möchte Gates den Musik- und Videomarkt aufrollen und das Duopol von Sony und Nintendo brechen. Zumindest hier kommt ihm das Desaster vom 11. September entgegen. Statt auszugehen, vergnügen sich die Leute zu Hause am eigenen Gerät.

Die Ewigmorgigen

Euro-Turbos
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Junge Euro-Turbos lassen nicht locker. Auch nach der Abstimmung über die bilateralen Verträge wollen sie nur eines: schnell nach Europa die Albatros-navigation.ch

Als die Schweiz am 6. Dezember 1992 den EWR ablehnte, war die Zürcherin Cornelia Lüthy 24 Jahre alt. Sie studierte Europa-Recht und war «schockiert» über das Resultat vom «schwarzen Sonntag». Wenn die Schweiz am 21. Mai über die bilateralen Verträge abstimmt, ist Lüthy 32 Jahre alt und promovierte Europa-Rechtlerin. Diesmal ist sie sicher, dass die Schweiz Ja sagt. Wichtig aber ist ihr etwas anderes: dass der 21. Mai endlich über die Bühne geht. «Bis dahin standen wir de facto unter Redeverbot.»

Wir – das sind die proeuropäischen Kräfte im Land, die sich den EU-Beitritt auf die Fahne geschrieben haben. Unter so eigenartigen Namen wie Geboren am 7. Dezember 1992, Geboren 1848 oder Aktion Europa Dialog haben sie sich zusammengeschlossen um dem Bundesrat in der Integrationsdebatte Dampf zu machen. Sie werden dafür sorgen, dass die Schweiz nach dem 21. Mai nicht in einen europapolitischen Schlaf versinkt – mit der Initiative «Ja zu Europa». Sie verlangt, dass der Bund mit der EU «ohne Verzug» Beitrittsverhandlungen aufnimmt.

Mit «Redeverbot» ist die Strategie des Bundesrats angesprochen. Er betont bis heute, ein Ja zum Vertragswerk sei kein Schritt in die EU. Auf diese Weise, kritisieren die Initianten, habe man eine Diskussion um den EU-Beitritt schlicht unterbunden.

«Das geht jetzt nicht mehr», sagt der 28-jährige Lukas Gresch. Der Generalsekretär der proeuropäischen Dachorganisation Neue Europäische Bewegung Schweiz Nebs sehnt «den Tag danach» ebenfalls herbei. «Ein klares Ja», sagt er, «löst die Blockierung in den Köpfen und schafft Platz für eine Volksdiskussion über den EU-Beitritt.» Das Vertragswerk ist für ihn und die 7000 Nebs-Mitstreiter lediglich eine «passage obligé» – ein Nadelöhr, «durch das wir hindurch müssen». Jetzt beginne die Phase der «postbilateralen» Politik. In der ersten Juni-Woche kommt die Initiative «Ja zu Europa» vors Parlament.

Das Startzeichen zur Integration haben die «Euro-Turbos» – wie Euro-Skeptiker die Initianten nennen – längst gegeben. Vor vier Jahren, am 30. Juli 1996, wurde das Volksbegehren bei der Bundeskanzlei deponiert. Dort lag und lagerte es. Es war dem Bundesrat stets ein Dorn im Auge und blieb ein Störfaktor im Bundeshaus.

Der bundesrat schob das Begehren vor sich hin. Mit seiner Stellungnahme hat er bis zum letztmöglichen Zeitpunkt der gesetzlichen Frist zugewartet. Aus Angst, eine EU-Diskussion könnte den bilateralen Verhandlungen in die Quere kommen, wurden sogar zwei Sitzungstermine verschoben. Die Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat hätten eigentlich schon vor dem 21. Mai Stellung nehmen müssen. Jetzt tagen sie erst danach. Am 23. Mai und am 26. Mai – kurz vor Sessionsbeginn.

Während die Euro-Turbos ihr klares Ziel (den schnellen EU-Beitritt) deklarieren, werden die Absichtserklärungen des Bundesrats (der punkto EU kein Ziel, sondern ein «strategisches Ziel» hat) immer missverständlicher und absurder. Vizekanzler Achille Casanova informierte am 30 März: «Der Bundesrat werde den Entscheid vom 21. Mai weder als eine Aufforderung noch als Schlusspunkt in der Integrationspolitik bewerten.» «Ein normaler Mensch», sagt Gresch, «kann das nicht verstehen.» Für ihn ist sonnenklar: Ein klares Ja am Sonntag ist ein Ja zu Europa und somit zur Union. Was ihm nicht klar ist: «Wie ich Vertrauen in eine Regierung haben kann, die ein strategisches Ziel festlegt und nachher alles tut, um es nicht zu erreichen.»

Den Sowohl-als-auch- beziehungsweise den Weder-noch-Weg hat der Bundesrat auch bei der Initiative «Ja zu Europa» gewählt. Er lehnt sie nicht ab – sonst würden Zweifel an seinem Beitrittswillen aufkommen. Er stimmt ihr aber auch nicht zu – sonst würde er innenpolitisch ein negatives Europa-Signal geben. Stattdessen sagt er «nein, aber». In Form eines Gegenvorschlags, den er im Januar 1999 auf den Tisch legte und über den das Volk nicht abstimmen kann. Weil dieser Gegenvorschlag nicht referendumsfähig ist. Seither hofft der Bundesrat, die Initiative würde zu Gunsten des Gegenvorschlags zurückgezogen.
Euro-Turbos

Beim Wort «Rückzug» kommen die «Euro-Turbos» erst recht in Fahrt. Sie wissen, dass sie mit der Initiative ein Druckmittel in der Hand haben. Es zwingt die Parlamentarier, nach dem 21. Mai Farbe zu bekennen. Das gefällt sogar etablierten Politikern. «Durch alle Böden hindurch» werde er das Begehren verteidigen, insistiert Grünen-Präsident und Nationalrat Ruedi Baumann. «Der EU-Beitritt wird nur diskutiert, wenn eine Volksinitiative auf dem Tisch liegt», sagt der überzeugte EU-Befürworter. Auch FDP-Nationalrat Marc Suter, Präsident von Nebs, will von einem Rückzug nichts wissen. «Sonst rückt der EU-Beitritt wieder in weite Ferne.»

Nebs-Mann Beat Brodbeck kritisiert den Gegenvorschlag, der keine Fristen enthält, als «schwammig». Da stehe nichts Konkretes drin, ausser dass man irgendwann mal der EU beitreten könnte.

Irgendwie – irgendwann. Das ist nicht der Fahrplan der Euro-Turbos. Ein Ziel, meinen sie, könne man nur erreichen, wenn man es nach aussen klar kommuniziere. Deshalb haben sie die Schweizer Integrationspolitik vorsorglich schon mal hochgerechnet und sind zum Schluss gekommen: Sogar mit der Annahme von «Ja zu Europa» würden, vom Jahr 2000 aus gerechnet, sechs Jahre verstreichen, bis die Schweiz Mitglied der EU würde. «Von einem Sturm in die EU», sagt Cornelia Lüthy, «kann also nicht die Rede sein.» Der viel zitierte innenpolitisch notwendige «Klärungs- und Reflexionsprozess» sei bestens gewährleistet. «Subito», betonen die Initianten, beziehe sich nicht auf den EU-Beitritt selbst, sondern den Beginn der Verhandlungen. Wie viele EU-Befürworter hegt auch die Nebs den Verdacht, dass der Bundesrat im Grunde ganz froh wäre, «Ja zu Europa» würde angenommen – dann wäre er nicht zu einem zügigen Verhandeln aufgefordert, sondern dazu gezwungen.

Was bleibt, ist das deutliche Indiz, dass der Bundesrat in die Union will. In Brüssel liegt immer noch das Schweizer Beitrittsgesuch, das vor der EWR-Abstimmung deponiert wurde. Zurückgenommen hat der Bundesrat dieses Gesuch bis heute nicht. Er hat es «eingefroren» und will es bei Gelegenheit wieder «auftauen».

Das Kühlschrank-Vokabular nervt die Jungen, weil es ulkig tönt, aber nichts heisst. Obschon sie ahnen, dass ihre Initiative – wenn sie zur Abstimmung kommt – allein schon am Ständemehr scheitern wird, wollen sie mit dem Kopf durch die integrationspolitische Mauer. Die Warnung, dass ein negatives Abstimmungsergebnis ein Eigentor wäre, bringt sie nicht von ihrem Weg ab. Denn sie wissen: Gerade die Tatsache, dass sie keine Taktiker sind, sorgt in Bern für Aufregung. «Wir sind keine Politiker, aber wir stehen für unsere Überzeugung ein», sagt Andrea Gnägi.

Vor fünf Jahren hat die 30-jährige Zürcherin selber für «Ja zu Europa» Unterschriften gesammelt und mit den Leuten dabei über die Chancen einer offenen Schweiz diskutiert. «Viele haben damals geglaubt, die Initiative sei ein Schnellschuss, eine Aktion, von der in ein paar Jahren niemand mehr spricht.»

Eine Fehlprognose. Die Euro-Turbos haben sich mit ihrem Durchhaltewillen Respekt verschafft – selbst bei jenen Parteien, denen das Tempo früher zu schnell war. Die bürgerlichen Parteien etwa staunten, dass der Bundesrat die Initiative nicht – wie die Anti-EU-Initiative der Lega – ohne Gegenvorschlag abkanzelte. Die SP ist sogar voll auf die Linie der Turbos eingeschwenkt.

Geschickt vereinten die Europa-Fans zudem ihre Kräfte. 1998 haben sämtliche kleine Grüppchen wie Europäische Bewegung Schweiz, Geboren am 7. Dezember 1992, die Jungen Europäischen Föderalistinnen und Föderalisten und die Aktion Europa Dialog fusioniert. Im März dieses Jahres kam schliesslich noch Geboren 1848 dazu.

Dass die Schweiz in der Union viel beitragen könnte, das wollen sie dem Schweizervolk beibringen. Die Überzeugunsarbeit wird auf der Strasse geleistet. Anfang Mai organisierte Nebs mit Gleichgesinnten- darunter SP-Nationalrat Mario Fehr – eine Europa-Promo-Tour in Zürich. Mit einem London-Bus kurvten die Euro-Turbos durch die Stadt, plädierten für die Bilateralen und den EU-Beitritt. Kaum aber hatten sie auf dem Helvetia-Platz das Mikrofon installiert, eilten militante EU-Gegner herbei, würgten der ersten Rednerin das Wort ab und schrien: «Usländer uuse!» Bei Nebs heissen diese Leute «die Ewiggestrigen». Dass für die Euro-Turbos eine ähnliche Wortschöpfung existiert, wissen sie seit dem 6. Mai. NZZ-Redaktor Max Frenkel bezeichnete die Initiative als ein «Geschenk» der «Ewigmorgigen».

Eine neue Stufe der Kriminalität

Kriminalität
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Letztes Jahr wurde die Internet-Polizei des Bundes abgeschafft. Adrian Lobsiger, Experte für Computer-Kriminalität beim Bund, will sie wieder einführen.

–: Herr Lobsiger, wurden auch Sie vom ILOVEYOU-Virus heimgesucht?
Adrian Lobsiger: Auch ich bekam das ominöse Mail.

–: Wie haben Sie reagiert?
Lobsiger: Ich habe sofort gedacht, dass etwas nicht stimmen kann. Zum Glück hat das Rechenzentrum des Eidgenössichen Justiz- und Polizeidepartementes schnell reagiert und alle Mails blockiert. Deshalb kam es bei uns zu keinem Absturz.

–: ILOVEYOU ist eines von mehreren tausend so genannten Makro-Viren, die ganze Computer-Systeme lahm legen können. Was unternimmt die oberste Strafverfolgungsbehörde der Schweiz gegen diese Form von Kriminalität?
Lobsiger: Als Strafverfolgungsbehörde regeln wir nicht den Verkehr im Internet. Wir werden dann aktiv, wenn ein strafrechtlich relevanter Gesetzesverstoss begangen worden ist. Vor allfälligen Gefahren müssen sich die Benützer schon selber schützen.

–: Das tönt nach Abwarten.
Lobsiger: Es ist keinesfalls so, dass wir die Hände in den Schoss legen. Wir verfolgen vielmehr die Entwicklung im Bereich der Computer-Kriminalität sehr genau.

–: Und die ist beunruhigend?
Lobsiger: Die Rechnung ist einfach. Je mehr User das Internet benützen, umso grösser ist der Missbrauch. Die Notwendigkeit der Strafverfolgungsbehörde, sich in diesem Bereich zu engagieren, ist deshalb unbestritten.

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–: Wie das? Erst letztes Jahr hat das Bundesamt für Polizei den Pilotversuch Internet-Polizei abgebrochen.
Lobsiger: Unsere Experten wurden mit empörten Hinweisen aus der Bevölkerung auf pornografische Darstellungen im Internet bombardiert und konnten ihrer eigentlichen Beschäftigung nicht mehr nachgehen – der Verfolgung strafrechtlicher Missbräuche im Netz. Heute arbeiten unsere Leute mehr im Hintergrund.

–: Die Ermittlungen in Fällen von Computer-Kriminalität in der Schweiz führen nach wie vor die Kantone durch. Die Beamten sind von der komplexen Materie oft überfordert. Eine Einladung an alle Hacker?
Lobsiger: Ich glauben nicht, dass die Untersuchungsbehörden der Kantone überhaupt keine Ahnung haben. Vielleicht stehen sie am Anfang des Falles vor einer elektronischen Mauer. Doch es ist auch im Internet nur eine Frage der Zeit, bis die elektronischen Spuren zu realen Menschen führen. Dann kommt wieder das klassische Untersuchungshandwerk zum Zug.

–: Ein Prozess vom März vor dem Bezirksgericht Zürich wegen Verbreitung von Viren führte zum Freispruch, weil der Urheber nicht ausfindig gemacht werden konnte. Hacker können sehr wohl ihre Spuren so weit verwischen, dass sie mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden nicht mehr aufgespürt werden können.
Lobsiger: Was tatsächlich fehlt, ist eine Kompetenzzentrale, die den kantonalen Ermittlern in komplizierten technischen Fragen zur Seite steht. Doch das ist vorläufig Wunschdenken.

–: Wann wird es wieder beim Bundesamt für Polizei eine Abteilung Cyber-Cops geben?
Lobsiger: Ob es wieder eine eigenständige Einheit für eine Internet-Polizei geben wird, wissen wir noch nicht. Das kommt vor allem auf die Bedürfnisse der einzelnen Kantone an. Deshalb wurde die Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von Missbräuchen elektronischer Kommunikationsmittel – kurz Bemik – gegründet. Sie wird nächsten Monat zum ersten Mal tagen und das weitere Vorgehen zwischen den Kantonen und dem Bund im Bereich der Computer-Kriminalität koordinieren.

–: Das Internet kennt weder Kantons- noch Landesgrenzen. Würde es nicht Sinn machen, wenn in grossen Fällen von Schweizer Computer-Kriminalität der Bund das Heft in die Hand nähme?
Lobsiger: Es wäre nicht gut, wenn wir die einzige Schweizer Strafverfolgungsbehörde wären, die über Computer-Kriminalität Bescheid wüsste. Wir müssten vielmehr komplexe Vorgänge im Internet in eine Sprache übersetzen, die jeder Polizist und Richter versteht. Doch welche Kompetenzen eine Cyber-Cop-Abteilung des Bundes erhalten würde, ist nicht zuletzt eine Frage der personellen und finanziellen Ressourcen.

–: Heute wird viel Geld in eine Schweizer DNA-Datenbank investiert, um genetische Fingerabdrücke zu speichern. Für Hacker kein Problem, sind sie doch nie persönlich am Tatort und hinterlassen dort keine Spuren. Eine Fehlinvestition?
Lobsiger: Das eine darf das andere nicht ausschliessen. Doch es ist klar: Das Internet hat die Kriminalität auf eine neue Stufe katapultiert.

Mord ohne Beweis

San Francisco
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Ein bizarrer Mordfall mit einem Schweizer Hauptverdächtigen bewegt San Francisco.

Als der Schweizer Vizekonsul Angelo Stucker den Untersuchungshäftling Vadim Miesegaes am vergangenen Mittwoch zum ersten Mal im San Francisco County Jail besuchte, schien ihm schon nach dessen ersten Sätzen offensichtlich, «dass der Mann geistig nicht hundertprozentig da war». Der schmale 27-jährige Genfer in der orangen Gefangenenkleidung wirkte auf Stucker wirr und mitgenommen. Vizekonsul Stucker war nicht allein in das Gefängnis im Süden der Stadt gekommen. Er hatte eine ausserordentliche Besuchszeit für Sheri Schuster, Miesegaes’ seit längerem von ihm getrennt lebende amerikanische Ehefrau, und für seinen aus der Schweiz eingeflogenen älteren Bruder Nicolas erwirkt. Bei der Begegnung, sagt Stucker, hätten die drei so viel geweint, dass er wiederholt den Raum verlassen habe, damit sie sich nicht beobachtet fühlten.

Zu jenem Zeitpunkt war Vadim Miesegaes in den Tageszeitungen von San Francisco als Mörder, der sein Opfer angeblich enthauptet, zerhackt und gehäutet hatte, seit Tagen ein Thema. Schon lange hatte kein Mord in der Stadt mehr ähnlich viel zu reden gegeben. Eine Tatsache, über die sich Pflichtverteidiger Franz Fuetsch masslos aufregt. «In diesem Land werden täglich Menschen ermordet, und es ist den Zeitungen ein paar Zeilen auf Seite zwanzig wert», sagt der Anwalt. «Dass dieser Fall so viel Schlagzeilen gemacht hat, liegt an den Grauen erregenden Detailinformationen, die aus dem Büro der Staatsanwaltschaft durchgesickert sind, obwohl sie nichts mit der Mordanschuldigung zu tun haben. Sie betreffen erst das Nachher.»

Dass es ein Mord gewesen war, der sich am 30. April in der Fulton Street 4302 zugetragen hatte, bezweifelten nur wenige. Der Fall schien gelöst, noch ehe die Fahndung begonnen hatte. Nur einen Tag, nachdem die dort wohnhafte Sekretärin Ella Wong von Verwandten als vermisst gemeldet worden war, behauptete Vadim Miesegaes, er habe die 47-Jährige erwürgt. Dann führte er die Polizei zu einem Abfallcontainer im gegenüberliegenden Golden Gate Park, in den er einen Teil der Leiche geworfen haben wollte. Tatsächlich fand die Polizei einen weiblichen Torso, der höchstwahrscheinlich – die Ergebnisse des DNA-Tests stehen noch aus – von Ella Wong stammte. Es passte alles zusammen.

Allerdings fehlt dem Puzzle das entscheidende Teil: der Mordbeweis. Am Rumpf der Leiche fanden sich keine Hinweise auf die Todesursache. Theoretisch konnte die zuckerkranke Ella Wong, wenn sie mit der Toten identisch war, auch an ihrer Diabetes oder an einem Gehirnschlag gestorben sein, ehe ihr Körper zerteilt wurde.

Warum der an der San Francisco State University immatrikulierte Informatikstudent aus Genf, der seit 1996 in den USA lebt und erst zwei Monate zuvor in Ella Wongs Vierzimmerwohnung im soliden Wohnviertel Richmond eingezogen war, die diskrete und als sehr freundlich geschilderte Vermieterin umgebracht haben soll, wird von den Medien wenig hinterfragt.

Miesegaes wird am 1. Mai im Kaufhaus Macy’s von Sicherheitsleuten festgehalten, weil er einer Schaufensterpuppe den Arm heruntergerissen hat. Da er sich heftig zur Wehr setzt, wird die Polizei alarmiert. Miesegaes erzählt den ungläubigen Beamten, dass er Ella Wong umgebracht und ihre Leiche auf verschiedene Abfallcontainer im Golden Gate Park verteilt habe. Gemäss Verteidiger Fuetsch ist der Genfer zu diesem Zeitpunkt hochgradig psychotisch und unzurechnungsfähig.

Die Beamten, unsicher ob der abwechselnd wirren und präzisen Ausführungen, rufen bei «Homicide Detail», dem Morddezernat von San Francisco, an. Mordinspektor Mike Maloney, seit 28 Jahren bei der Polizei im Dienst, übernimmt den Fall.

«Als ich Miesegaes am Abend des 1. Mai sah, hatte er ein zerkratztes Gesicht, weil er bei der Festnahme um sich geschlagen hatte», sagt Maloney. «Aber er schien mir nicht verwirrt. Immerhin führte er uns sofort zu dem Müllcontainer mit dem Rumpf der Frau, deren Ermordung er zuvor geschildert hatte.»

Es ist nicht der einzige Container im Golden Gate Park, zu dem Vadim Miesegaes die Beamten lotst. Er sagt, er habe die Leiche auf mehrere Container verteilt. Aber in der Nacht auf den 1. Mai hat die städtische Müllabfuhr alle Abfallbehälter des Parks geleert. Dass der weibliche Torso dennoch gefunden werden kann, liegt an einem unaufmerksamen Autofahrer, der seinen Wagen trotz Verbotsschild direkt vor dem Container geparkt und damit der Müllabfuhr den Zugriff verunmöglicht hat.

Noch am gleichen Abend durchkämmt Maloney auch die Vierzimmerwohnung im zweistöckigen, sandsteinfarbenen Haus an der Fulton Street. Die drei Räume der in Hongkong geborenen Ella Wong sind tadellos aufgeräumt. In Vadim Miesegaes’ Zimmer sieht es unordentlicher aus, «aber nicht schlimmer als in anderen Studentenbuden auch», sagt Maloney. Einige Kleidungsstücke des Schweizers haben Flecken, die nach Blut aussehen. Und im Bad gibt es Spuren eines Blutbades, die trotz sorgfältiger Reinigung zu entdecken sind. Aber das sind allenfalls Zusatzelemente für die Anklage, keine schlagenden Beweise.

Dem Morddezernat ist klar, dass die Staatsanwaltschaft mehr als einen Rumpf vorzeigen muss, wenn sie die Geschworenen überzeugen will, dass die Tatbestände der Selbstanklage des Schweizers, geistig gesund oder nicht, der Wahrheit entsprechen. Dezernats-Chefin Judy Percell ordnet die sofortige Beschlagnahmung aller Müll-Ladungen an, die möglicherweise Beweisgut enthalten. Seit einer Woche sind mehrere Dutzend Polizeibeamte und Angestellte der Müllabfuhr damit beschäftigt, auf dem Rasen des Golden Gate Parks zentnerweise Müll auszubreiten und nach Leichenteilen abzusuchen. Inspektor Maloney wurde von der Aufgabe befreit. Er bekam am zweiten Tag einen Hautausschlag.

Bisher war die Suche erfolglos. Denn ein grosser Teil des in Frage kommenden Mülls wurde bereits zerkleinert und in der Deponie von Altamont, achtzig Kilometer östlich von San Francisco, mit Erde vermischt. Vermutlich wird die Staatsanwaltschaft in den nächsten Tagen anordnen, dass die Deponie durchsucht wird. Es handelt sich um eine Fläche von über 25 Hektaren. Geschätzte Kosten der Suchaktion: etwa dreieinhalb Millionen Franken. «Natürlich ist die Chance auf Erfolg gering», sagt Mike Maloney, «aber es wird nicht zum ersten Mal gemacht. Und wir haben auch schon Leichenteile gefunden.»

San Francisco

Wenn man Franz Fuetsch fragt, ob er einen derart gigantischen Aufwand für sinnvoll halte, wird der Verteidiger fast zornig. «Falls es nicht getan wird, können Sie ganz sicher sein, dass wir fragen, warum», sagt der Anwalt mit den österreichischen Vorfahren. Der Kosteneinwand sei unannehmbar. «Hier geht es um das restliche Leben meines Mandanten. Das Auffinden weiterer Körperteile, vor allem des Kopfes, könnte ihn unter Umständen völlig entlasten.»

John Farrell, der mit dem Fall Miesegaes betraute stellvertretende Staatsanwalt, lässt sich von den Medien fotografieren, aber ungern befragen. «Ich habe zwei Aufgaben», sagt der grauhaarige Ankläger. «Beweise zusammenzutragen und zu garantieren, dass der Angeklagte ein faires Verfahren bekommt. Deswegen bringe ich gewisse Dinge erst vor Gericht zur Sprache.»

Dafür zu sorgen, dass gezielte Indiskretionen vorher zur Sprache kommen, ist Fred Gardners Aufgabe. «Ein schwieriger Fall», sagt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft von San Francisco, «aber Enthauptungen sind immer schwierige Fälle.» Dann fragt er beiläufig, ob es nicht merkwürdig sei, dass in den letzten Jahren in den USA fast alle Morde, bei denen die Leichen zerhackt, gehäutet oder in Einzelteile zerlegt worden seien, von Menschen unter dem Einfluss des Antidepressivums Prozac begangen worden seien.

Der Satz bleibt in der Luft hängen. Es ist bekannt, dass Vadim Miesegaes, aufgewachsen in Genf, «eine sehr traurige Kindheit» hatte. Das bestätigt sein älterer Bruder Sacha, der während des Verfahrens in Genf geblieben ist. Auf Details will er nicht eingehen. 1990 verlor Vadim Miesegaes, gerade 17 Jahre alt, innerhalb weniger Monate Mutter und Vater. Nach dem Tod der Eltern wurde er in Genf in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert.

Noch ist Verteidiger Fuetsch dabei, eine lückenlose Krankheitsgeschichte seines Mandanten zu beschaffen, die erhärten soll, dass der Genfer zum Zeitpunkt seiner Festnahme an Wahnvorstellungen litt. Fest steht, dass er auch während seines Studiums in San Francisco in psychiatrischer Behandlung war und mit Psychopharmaka behandelt wurde. «Wir wissen noch nicht genau, welche Medikamente er bekam», sagt Fuetsch. «Nach unseren Informationen liegen seiner Psychose aber organische Störungen zu Grunde, für die er in Behandlung war.» Von Prozac war nicht die Rede.

Am 5. Juni wird das Gericht nach einem Gutachten des Psychiaters Robert Levy entscheiden, ob Vadim Miesegaes prozessfähig ist. Als Levy ihn letzte Woche erstmals im Gefängnis besuchte, schien ihm der Schweizer «ruhig, aber deutlich psychotisch. Er sagte viele bizarre Dinge, die keinen Sinn machten.» Wenn Levys Befund am 5. Juni der gleiche bleibt, wird Miesegaes in ein staatliches psychiatrisches Institut verlegt. Dort, sagt Verteidiger Fuetsch, werde man ihn weniger therapieren als mit Medikamenten darauf vorbereiten, um den Prozess durchzustehen. Dessen Beginn erwartet Fuetsch frühestens in einem Jahr.

Ob Vadim Miesegaes dann für unzurechnungsfähig erachtet oder wegen Mordes zur Verantwortung gezogen wird – die beantragte Höchststrafe wird auf lebenslänglich lauten. Als sich 1996 San Franciscos oberster Staatsanwalt Terence Hallinan zur Wahl stellte, garantierte er, dass er während seiner Amtszeit nicht einen einzigen Antrag auf Todesstrafe stellen werde.

Pierre Lamunière: «Wir wollen die Besten sein»

Pierre Lamunière
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Pierre Lamunière: «Wir wollen die Besten sein»

Edipresse-Chef Pierre Lamunière hat keine Angst vor der Ringier-Konkurrenz «dimanche.ch».

–: Herr Lamunière, diesen Sonntag wird Ringier in der Romandie eine neue Sonntagszeitung lancieren. Bereitet das Ihnen Kopfweh?
Pierre Lamunière: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie aus beruflichen Gründen Kopfweh gehabt. Edipresse ist in sieben europäischen Ländern aktiv und gibt siebzig Publikationen heraus. Jeden Monat gibt es irgendwo neue Konkurrenz. Das gehört zum Geschäft.

–: Für wie viele Sonntagszeitungen hat es denn Platz in der Romandie?
Lamunière: Man kann alle theoretischen Überlegungen anstellen, am Ende beantwortet die Praxis diese Frage. In der Romandie hat es schon alle Szenarien gegeben: eine Sonntagszeitung, zwei, drei, dann wieder zwei und wieder nur eine.

–: Die andern, ausser Ihrem «Matin», haben sich alle ruiniert.
Lamunière: Es gab erfolglose Neugründungen wie «Info dimanche». Auch alte Titel mussten dichtmachen, wie «La Suisse» nach fast 100 Jahren. Ich will aber nicht sagen, es habe keinen Platz für eine zweite Sonntagszeitung.

–: Doch offenbar nicht für eine dritte. Soeben hat «Le Temps» auf eine geplante Sonntagsausgabe verzichtet.
Lamunière: Drei Sonntagszeitungen – das erschiene mir schwierig.

–: Für Ihren «Matin», die rentable Sonntagszeitung, befürchten Sie nichts?
Lamunière: Nein. Seine Position ist sehr solid. Ich sage nicht, der «Matin» sei eine perfekte Zeitung, und wir wollen ihn nächstes Jahr deutlich verstärken …

–: … dafür haben Sie bereits den Chefredaktor entlassen.
Lamunière: Wir haben einen neuen Chefredaktor angestellt, einen fähigen Mann. Aber schon mit dem heutigen Konzept hat der «Matin» in der Romandie eine Reichweite, die grösser ist als die von «SonntagsBlick» und «SonntagsZeitung» zusammen in der Deutschschweiz.

–: Der «Matin» erreicht rund 60 Prozent der potenziellen Leserschaft der Romandie; «SonntagsBlick» und «SonntagsZeitung» zusammen kommen in der Deutschschweiz auf rund 44 Prozent.
Lamunière: Genau. Es ist mir klar, dass uns ein neuer Konkurrent etwas kosten wird, vielleicht bei den Werbeeinnahmen; vielleicht werden wir auch einige Leser verlieren. Aber der «Matin» hat ständig an Auflage gewonnen, wie auch immer die Lage auf dem Sonntagsmarkt war. Für eine starke Zeitung ist das die bestmögliche Situation: Marktführer sein, aber mit einem Konkurrenten, der einen zwingt, der Beste zu sein.

–: Der «Matin» ist eine sehr dicke Zeitung mit mehreren Beilagen; er ist auch teuer, für Käufer wie für Inserenten. Ringier hingegen will ein schlankes Blatt machen mit günstigen Verkaufs- und Inseratepreisen. Leser wie Anzeigenkunden könnten da in Versuchung kommen.
Lamunière: Ich glaube, es wird viele Doppelleser geben. Wenn Sie sagen, der «Matin» sei teuer, bin ich nicht einverstanden. Zwei Magazine und eine Zeitung für dreieinhalb Franken, das ist korrekt. Und was die Anzeigen betrifft: Wir haben 600 000 Leser; das heisst, mit einer Anzeige erreicht man 60 Prozent der Erwachsenen in der Romandie. Die Anzeigenkunden kommen nicht unter Zwang zu uns, sondern weil die Mediadaten des «Matin» so eindrücklich sind.

–: Ringier will eine Qualitätszeitung machen, stellt dafür aber nur ein gutes Dutzend Redaktoren an.
Lamunière: Falls sie damit Erfolg haben sollten, wäre das für die Branche eine extrem interessante Erfahrung …

–: …für die Verleger, nicht für die Journalisten.
Lamunière: Extrem interessant für die Verleger und extrem Besorgnis erregend für die Journalisten. Wenn jemand den Beweis erbrächte, dass man mit 15 Journalisten eine Qualitätszeitung machen kann, würde das für grosse Verleger potenzielle Ersparnisse von Dutzenden von Millionen bedeuten (lacht).

–: In den vergangenen Jahren sah es aus, als ob der welsche Kuchen aufgeteilt wäre: die Zeitungen für Edipresse, die Magazine für Ringier. Jetzt attackiert Ringier auf Ihrem Heimgebiet: Wie schlagen Sie zurück?
Lamunière: Ich sehe das nicht als Attacke. Alle Verleger suchen neue Projekte, und es ist klar, dass der Sonntagsmarkt attraktiv ist. Wie wir reagieren? Der «Matin» wird einige Überraschungen bereithalten. Auch «Le Temps» wird sein Angebot fürs Wochenende ausbauen.

Pierre Lamunière

–: Edipresse ist in Spanien, Portugal, Griechenland und Rumänien sehr stark, aber in der Deutschschweiz praktisch nicht präsent. Wieso?
Lamunière: Wir würden den Markt gern betreten. Ich will mich aber nicht in rein prestigeorientierte Abenteuer stürzen. Wenn es Sachen zu verkaufen gibt – und es gibt sehr wenige –, schauen wir sie uns natürlich an. Wir haben es versucht …

–: … mit der «HandelsZeitung».
Lamunière: Beispielsweise. Aber dann müssen die Preise vernünftig sein. Man kann auch etwas von null anfangen, doch die Deutschschweiz ist ein gesättigter Markt. Wir haben Ideen, die sind aber noch nicht ausgereift.

–: Ausser der NZZ sind alle grossen Medienunternehmen in Familienbesitz – Ringier, TA-Media, Basler Mediengruppe, Edipresse. In andern Branchen jagen sich Übernahmen und Fusionen. Können die Verlage unabhängig bleiben?
Lamunière: Ich glaube nicht, dass die Besitzstruktur sehr lange so bleiben wird. Edipresse ist bereits eine halb private, halb öffentliche Gesellschaft. Ich habe zwar noch die Kontrolle …

–: … 70 Prozent der Stimmen …
Lamunière: … aber 55 Prozent der Aktien werden an der Börse gehandelt. Und das ist eine Entwicklung, welche die andern Gruppen ebenfalls durchmachen müssen, wenn sie Grossinvestitionen tätigen wollen, zum Beispiel im Internet oder im Fernsehen. Anderseits haben sie Strukturen, wo sich die Generationen, die Nachfolger immer mehr aufsplittern.

–: Sie vermehren sich und werden immer hungriger.
Lamunière: Die Familienmitglieder, die nicht im Management sind, betrachten die Börsenwerte grosser Medienunternehmen und fragen dann: Weshalb gibst du mir nur drei Prozent Dividende? Ich habe einen Sohn, der eine Arztpraxis eröffnen möchte. Meine Frau möchte endlich die Villa in Spanien kaufen, von der wir so lange geträumt haben (lacht). Und dann gibt es noch ein Problem: Nehmen wir an, Ringier oder TA-Media möchte morgen verkaufen, um in etwas ganz anderes zu investieren. Dann gäbe es kaum Schweizer Firmen, die den Preis bezahlen könnten.

–: Sie wären dazu fähig?
Lamunière: Ja, weil wir an der Börse sind und das Kapital erhöhen könnten. Gut, eine Firma hat fantastische Mittel: die TA-Media AG. Aber für die andern wäre das schwierig. Mit Springers Kauf der «HandelsZeitung» hat erstmals eine ausländische Gruppe in der Schweiz Fuss gefasst. Es wird weitere geben.

–: Werden also einzelne Verlage von einer grösseren Gruppe geschluckt?
Lamunière: Es ist nur eine Frage der Zeit.

–: Sie expandieren nur im traditionellen Printbereich, dafür im Ausland. Welche Überlegungen stecken dahinter?
Lamunière: Wir verfolgten jahrelang eine regionale Strategie. Aber da die Romandie klein ist, stossen wir an Grenzen. Das ist, wie wenn TA-Media die «Basler Zeitung», die «Berner Zeitung» und das «St. Galler Tagblatt» gekauft hätte.

–: Das tut in der Deutschschweiz die NZZ: Sie hat das «St. Galler Tagblatt» und den «Bund» geschluckt.
Lamunière: Als Nummer eins hat man die Wettbewerbs-Kommission am Hals, die öffentliche Meinung gegen sich. Und wer Zweiter ist, kann sich alles erlauben, weil ihn niemand beachtet. Da hat die NZZ ihr Image äusserst geschickt verwaltet.

–: Sie hat sich als Retter bedrohter Zeitungen dargestellt.
Lamunière: Genau. Ich hingegen hatte keine Wahl. Für ein kommerzielles Fernsehen ist die Romandie zu klein. Allenfalls kämen in Zukunft Spartenkanäle in Frage, aber kein Vollprogramm. Sobald es also keine Möglichkeit mehr gab, auf dem Heimmarkt zu expandieren, musste ich eine internationale Strategie erarbeiten. Jetzt operieren wir in Ländern, die interessanter sind als die Schweiz. In Spanien und Lateinamerika etwa ist das Potenzial viel grösser.

Programmlawine

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Die britische NTL kauft Cablecom. Damit kommt ein neuer Mediengigant in die Schweiz. Er droht zur Konkurrenz für die SRG zu werden.

Mr. und Mrs. Jones in England konsumieren alles aus der gleichen Dose. Sie sehen Fernsehfilme, hören Radio und surfen im Internet; sie telefonieren mit Freunden und erledigen ihren Bankverkehr – über ein einziges Kabel. Den Anschluss haben sie von NTL.

Der britische Kabelnetzbetreiber NTL versorgt in England und Irland 1,7 Millionen Haushalte mit diesem Vollpaket. «Kommunikation total» lautet die Devise. Von Fernsehen über Internet bis zum Telefon wird alles ins Haus geliefert. Via ein Kabel, eine Dose und viele Stecker.

Seit Anfang dieser Woche gilt für die Schweizer: «Keep up with the Joneses», Mithalten mit Englands Herrn und Frau Jedermann. NTL übernimmt Cablecom, die grösste Kabelnetzbetreiberin der Schweiz, und verspricht eine Kommunikations-Offensive, wie sie der geruhsame Markt hier noch nicht gekannt hat.

«Als Erstes kommt das digitale Fernsehen», sagt Jeff Wyman; der Unterhändler hat den Deal für NTL perfekt gemacht. Statt 50 TV-Programme empfangen Schweizer Haushalte bald schon 500, viele davon als Bezahlfernsehen.

Doch damit allein rechnet sich der enorme Kaufpreis von 5,8 Milliarden Franken für NTL nicht. In einem zweiten Schritt folgt der Ausbau der interaktiven Dienste – von Cablecom über Swiss Online schon heute teilweise angeboten. Als Drittes ist denkbar, dass die Cablecom eigene, exklusive TV-Programme verbreitet – wie das NTL in England versucht.

Pay-TV soll zum grossen Geschäft werden. Sei es, indem NTL eingekaufte Spartenpakete, von Spielfilmen über Musik- und Sportsendungen bis zur Erotik, durch seine Kabel schickt. Oder indem einzelne Programme exklusiv übertragen werden.

«Wir verstehen uns als komplettes Kommunikations-Unternehmen», definierte NTL-Boss Barclay Knapp seine Firma letzten Sommer an einer Fachtagung. «Wir sind ein Einzelladen, der alle Kommunikations-, Informations- und Unterhaltungs-Bedürfnisse befriedigt.»

Zwar betrieb NTL bisher Kabelnetze, aber viel Programm bot er nicht: Noch gibts kein NTL-TV. Doch mehrfach verbreitete das Unternehmen einzelne Angebote exklusiv über seine Kabel – und liess die Zuschauer dafür bezahlen. So löste NTL in England eine medienpolitische Debatte aus, als er mit einigen anderen Kabelbetreibern das Exklusivrecht aufs offizielle Gedenkkonzert für Prinzessin Diana kaufte; die klassischen Sender BBC, ITV und Channel 4 gingen leer aus. In der Folge durften sich NTL-Kunden den Auftritt von Cliff Richard, Chris de Burgh und Kollegen gönnen – während neun Zehntel der britischen Fernsehzuschauer, da nicht bei NTL oder satellitenabhängig, in die Röhre guckten.

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Noch spektakulärer sind die Bestrebungen, im Sportfernsehen Fuss zu fassen. Die Kabler besitzen bereits eine Beteiligung an Eurosport, in Grossbritannien wird der Sportkanal exklusiv von NTL verbreitet. Ähnliche Engagements werden ausgebaut. Wie Medienmagnat Rupert Murdoch, der für seinen Satellitensender BSkyB um Einfluss bei Manchester United kämpft, strebte NTL im Frühling die Übernahme des Fussballklubs Newcastle United an – und scheiterte.

Aber: «Wir bleiben gewillt, unser Sportprogramm auszubauen. Jede neue Gelegenheit wird überprüft», sagte Knapp.

Das war im April. Dem letzten englischen Fussballfan wurde NTL letzten September zum Begriff, als bekannt wurde, dass Knapp die Übertragungsrechte an der Premier League kaufen will. Unterstützt von Bill Gates, dem Microsoft-Milliardär und Minderheitenaktionär bei NTL, bot Knapp 2,5 Milliarden Franken, um die rentabelste Liga der Welt ab 2001 zu kontrollieren; der Entscheid ist hängig.

In der Schweiz hat NTL zwar derzeit keine Pläne, eigenständige Programme anzubieten oder die Cablecom gar zur Konkurrenz für die SRG aufzurüsten. Doch längerfristig will NTL-Manager Jeff Wyman dies nicht ausschliessen: «Wir halten uns alle Optionen offen.»

Bei der SRG sieht man der möglichen neuen Konkurrenz gelassen entgegen: «Wir wehren uns nicht gegen neue Anbieter», sagt SRG-Stabschef Rainer Keller. Er hält aber fest, dass eine Behinderung der Service-public-Programme unzulässig sei. «Laut Gesetz darf ein Kabelnetzbetreiber seine Position nicht missbräuchlich ausnützen.» Will sagen: Selbst wenn die Cablecom einst eigene Sportprogramme übertragen würde, müsste sie andere Sportkanäle ebenfalls aufschalten.

Doch das Radio- und Fernsehgesetz weist Lücken auf. Auf welchen Sendeplätzen die Kabler ihre Programme zu etablieren haben, steht nirgends. Medienminister Moritz Leuenberger will diese Lücke bei der Gesetzesrevision schliessen und die begehrten ersten Plätze für die öffentlich-rechtlichen Programme reservieren.

Das Verhältnis zwischen dem neuen Marktplayer NTL und den Schweizer Behörden bedarf der Klärung. Beim Bundesrat liegt eine Beschwerde des Schweizer Teleclubs gegen die Cablecom, die sich weigerte, dessen digitale Pay-TV-Pakete zu verbreiten.

Hinter dem lokalen Streit versteckt sich ein Kampf der globalen Mediengiganten. Durch NTL wird Cablecom künftig indirekt mit France Telecom verbunden, die 12 Prozent von NTL besitzt – sowie mit Bill Gates’ Microsoft, die 5 Prozent hält. Auf der anderen Seite hat Teleclub – abgesehen von Ringier – die Medienriesen Kirch und Murdoch im Rücken. Beide hatten ebenfalls vor, Cablecom zu kaufen.