Mord ohne Beweis

San Francisco
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Ein bizarrer Mordfall mit einem Schweizer Hauptverdächtigen bewegt San Francisco.

Als der Schweizer Vizekonsul Angelo Stucker den Untersuchungshäftling Vadim Miesegaes am vergangenen Mittwoch zum ersten Mal im San Francisco County Jail besuchte, schien ihm schon nach dessen ersten Sätzen offensichtlich, «dass der Mann geistig nicht hundertprozentig da war». Der schmale 27-jährige Genfer in der orangen Gefangenenkleidung wirkte auf Stucker wirr und mitgenommen. Vizekonsul Stucker war nicht allein in das Gefängnis im Süden der Stadt gekommen. Er hatte eine ausserordentliche Besuchszeit für Sheri Schuster, Miesegaes’ seit längerem von ihm getrennt lebende amerikanische Ehefrau, und für seinen aus der Schweiz eingeflogenen älteren Bruder Nicolas erwirkt. Bei der Begegnung, sagt Stucker, hätten die drei so viel geweint, dass er wiederholt den Raum verlassen habe, damit sie sich nicht beobachtet fühlten.

Zu jenem Zeitpunkt war Vadim Miesegaes in den Tageszeitungen von San Francisco als Mörder, der sein Opfer angeblich enthauptet, zerhackt und gehäutet hatte, seit Tagen ein Thema. Schon lange hatte kein Mord in der Stadt mehr ähnlich viel zu reden gegeben. Eine Tatsache, über die sich Pflichtverteidiger Franz Fuetsch masslos aufregt. «In diesem Land werden täglich Menschen ermordet, und es ist den Zeitungen ein paar Zeilen auf Seite zwanzig wert», sagt der Anwalt. «Dass dieser Fall so viel Schlagzeilen gemacht hat, liegt an den Grauen erregenden Detailinformationen, die aus dem Büro der Staatsanwaltschaft durchgesickert sind, obwohl sie nichts mit der Mordanschuldigung zu tun haben. Sie betreffen erst das Nachher.»

Dass es ein Mord gewesen war, der sich am 30. April in der Fulton Street 4302 zugetragen hatte, bezweifelten nur wenige. Der Fall schien gelöst, noch ehe die Fahndung begonnen hatte. Nur einen Tag, nachdem die dort wohnhafte Sekretärin Ella Wong von Verwandten als vermisst gemeldet worden war, behauptete Vadim Miesegaes, er habe die 47-Jährige erwürgt. Dann führte er die Polizei zu einem Abfallcontainer im gegenüberliegenden Golden Gate Park, in den er einen Teil der Leiche geworfen haben wollte. Tatsächlich fand die Polizei einen weiblichen Torso, der höchstwahrscheinlich – die Ergebnisse des DNA-Tests stehen noch aus – von Ella Wong stammte. Es passte alles zusammen.

Allerdings fehlt dem Puzzle das entscheidende Teil: der Mordbeweis. Am Rumpf der Leiche fanden sich keine Hinweise auf die Todesursache. Theoretisch konnte die zuckerkranke Ella Wong, wenn sie mit der Toten identisch war, auch an ihrer Diabetes oder an einem Gehirnschlag gestorben sein, ehe ihr Körper zerteilt wurde.

Warum der an der San Francisco State University immatrikulierte Informatikstudent aus Genf, der seit 1996 in den USA lebt und erst zwei Monate zuvor in Ella Wongs Vierzimmerwohnung im soliden Wohnviertel Richmond eingezogen war, die diskrete und als sehr freundlich geschilderte Vermieterin umgebracht haben soll, wird von den Medien wenig hinterfragt.

Miesegaes wird am 1. Mai im Kaufhaus Macy’s von Sicherheitsleuten festgehalten, weil er einer Schaufensterpuppe den Arm heruntergerissen hat. Da er sich heftig zur Wehr setzt, wird die Polizei alarmiert. Miesegaes erzählt den ungläubigen Beamten, dass er Ella Wong umgebracht und ihre Leiche auf verschiedene Abfallcontainer im Golden Gate Park verteilt habe. Gemäss Verteidiger Fuetsch ist der Genfer zu diesem Zeitpunkt hochgradig psychotisch und unzurechnungsfähig.

Die Beamten, unsicher ob der abwechselnd wirren und präzisen Ausführungen, rufen bei «Homicide Detail», dem Morddezernat von San Francisco, an. Mordinspektor Mike Maloney, seit 28 Jahren bei der Polizei im Dienst, übernimmt den Fall.

«Als ich Miesegaes am Abend des 1. Mai sah, hatte er ein zerkratztes Gesicht, weil er bei der Festnahme um sich geschlagen hatte», sagt Maloney. «Aber er schien mir nicht verwirrt. Immerhin führte er uns sofort zu dem Müllcontainer mit dem Rumpf der Frau, deren Ermordung er zuvor geschildert hatte.»

Es ist nicht der einzige Container im Golden Gate Park, zu dem Vadim Miesegaes die Beamten lotst. Er sagt, er habe die Leiche auf mehrere Container verteilt. Aber in der Nacht auf den 1. Mai hat die städtische Müllabfuhr alle Abfallbehälter des Parks geleert. Dass der weibliche Torso dennoch gefunden werden kann, liegt an einem unaufmerksamen Autofahrer, der seinen Wagen trotz Verbotsschild direkt vor dem Container geparkt und damit der Müllabfuhr den Zugriff verunmöglicht hat.

Noch am gleichen Abend durchkämmt Maloney auch die Vierzimmerwohnung im zweistöckigen, sandsteinfarbenen Haus an der Fulton Street. Die drei Räume der in Hongkong geborenen Ella Wong sind tadellos aufgeräumt. In Vadim Miesegaes’ Zimmer sieht es unordentlicher aus, «aber nicht schlimmer als in anderen Studentenbuden auch», sagt Maloney. Einige Kleidungsstücke des Schweizers haben Flecken, die nach Blut aussehen. Und im Bad gibt es Spuren eines Blutbades, die trotz sorgfältiger Reinigung zu entdecken sind. Aber das sind allenfalls Zusatzelemente für die Anklage, keine schlagenden Beweise.

Dem Morddezernat ist klar, dass die Staatsanwaltschaft mehr als einen Rumpf vorzeigen muss, wenn sie die Geschworenen überzeugen will, dass die Tatbestände der Selbstanklage des Schweizers, geistig gesund oder nicht, der Wahrheit entsprechen. Dezernats-Chefin Judy Percell ordnet die sofortige Beschlagnahmung aller Müll-Ladungen an, die möglicherweise Beweisgut enthalten. Seit einer Woche sind mehrere Dutzend Polizeibeamte und Angestellte der Müllabfuhr damit beschäftigt, auf dem Rasen des Golden Gate Parks zentnerweise Müll auszubreiten und nach Leichenteilen abzusuchen. Inspektor Maloney wurde von der Aufgabe befreit. Er bekam am zweiten Tag einen Hautausschlag.

Bisher war die Suche erfolglos. Denn ein grosser Teil des in Frage kommenden Mülls wurde bereits zerkleinert und in der Deponie von Altamont, achtzig Kilometer östlich von San Francisco, mit Erde vermischt. Vermutlich wird die Staatsanwaltschaft in den nächsten Tagen anordnen, dass die Deponie durchsucht wird. Es handelt sich um eine Fläche von über 25 Hektaren. Geschätzte Kosten der Suchaktion: etwa dreieinhalb Millionen Franken. «Natürlich ist die Chance auf Erfolg gering», sagt Mike Maloney, «aber es wird nicht zum ersten Mal gemacht. Und wir haben auch schon Leichenteile gefunden.»

San Francisco

Wenn man Franz Fuetsch fragt, ob er einen derart gigantischen Aufwand für sinnvoll halte, wird der Verteidiger fast zornig. «Falls es nicht getan wird, können Sie ganz sicher sein, dass wir fragen, warum», sagt der Anwalt mit den österreichischen Vorfahren. Der Kosteneinwand sei unannehmbar. «Hier geht es um das restliche Leben meines Mandanten. Das Auffinden weiterer Körperteile, vor allem des Kopfes, könnte ihn unter Umständen völlig entlasten.»

John Farrell, der mit dem Fall Miesegaes betraute stellvertretende Staatsanwalt, lässt sich von den Medien fotografieren, aber ungern befragen. «Ich habe zwei Aufgaben», sagt der grauhaarige Ankläger. «Beweise zusammenzutragen und zu garantieren, dass der Angeklagte ein faires Verfahren bekommt. Deswegen bringe ich gewisse Dinge erst vor Gericht zur Sprache.»

Dafür zu sorgen, dass gezielte Indiskretionen vorher zur Sprache kommen, ist Fred Gardners Aufgabe. «Ein schwieriger Fall», sagt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft von San Francisco, «aber Enthauptungen sind immer schwierige Fälle.» Dann fragt er beiläufig, ob es nicht merkwürdig sei, dass in den letzten Jahren in den USA fast alle Morde, bei denen die Leichen zerhackt, gehäutet oder in Einzelteile zerlegt worden seien, von Menschen unter dem Einfluss des Antidepressivums Prozac begangen worden seien.

Der Satz bleibt in der Luft hängen. Es ist bekannt, dass Vadim Miesegaes, aufgewachsen in Genf, «eine sehr traurige Kindheit» hatte. Das bestätigt sein älterer Bruder Sacha, der während des Verfahrens in Genf geblieben ist. Auf Details will er nicht eingehen. 1990 verlor Vadim Miesegaes, gerade 17 Jahre alt, innerhalb weniger Monate Mutter und Vater. Nach dem Tod der Eltern wurde er in Genf in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert.

Noch ist Verteidiger Fuetsch dabei, eine lückenlose Krankheitsgeschichte seines Mandanten zu beschaffen, die erhärten soll, dass der Genfer zum Zeitpunkt seiner Festnahme an Wahnvorstellungen litt. Fest steht, dass er auch während seines Studiums in San Francisco in psychiatrischer Behandlung war und mit Psychopharmaka behandelt wurde. «Wir wissen noch nicht genau, welche Medikamente er bekam», sagt Fuetsch. «Nach unseren Informationen liegen seiner Psychose aber organische Störungen zu Grunde, für die er in Behandlung war.» Von Prozac war nicht die Rede.

Am 5. Juni wird das Gericht nach einem Gutachten des Psychiaters Robert Levy entscheiden, ob Vadim Miesegaes prozessfähig ist. Als Levy ihn letzte Woche erstmals im Gefängnis besuchte, schien ihm der Schweizer «ruhig, aber deutlich psychotisch. Er sagte viele bizarre Dinge, die keinen Sinn machten.» Wenn Levys Befund am 5. Juni der gleiche bleibt, wird Miesegaes in ein staatliches psychiatrisches Institut verlegt. Dort, sagt Verteidiger Fuetsch, werde man ihn weniger therapieren als mit Medikamenten darauf vorbereiten, um den Prozess durchzustehen. Dessen Beginn erwartet Fuetsch frühestens in einem Jahr.

Ob Vadim Miesegaes dann für unzurechnungsfähig erachtet oder wegen Mordes zur Verantwortung gezogen wird – die beantragte Höchststrafe wird auf lebenslänglich lauten. Als sich 1996 San Franciscos oberster Staatsanwalt Terence Hallinan zur Wahl stellte, garantierte er, dass er während seiner Amtszeit nicht einen einzigen Antrag auf Todesstrafe stellen werde.

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